Vor 60 Jahren als Zimmermann auf die Walz Hermann Gieseking kam als Rolandsbruder weit herum / In der Schweiz Geheimnisse des Treppenbaus erlernt Von Jürgen Langenkämper Minden (mt). Vor 60 Jahren, am 13. Mai 1952, begann für Hermann Gieseking das große Abenteuer. Mit 18 Jahren verließ der gelernte Zimmermann seine Heimat und begab sich auf eine mehrjährige Wanderschaft. Mit 14 kam der gebürtige Todtenhauser Hermann Gieseking am 1. April 1948 in die Lehre. "Eigentlich wollte ich Tischler werden." Aber weil nur noch eine Lehrstelle als Zimmermann frei war, nahm er die. Bereut hat er es nicht - im Gegenteil: "Sonst hätte ich vieles nicht erlebt.""Mit siebzehneinhalb war ich Geselle", blickt der Handwerker zurück. Aber es gab zu wenig Arbeit in und um Minden. "Das Arbeitsamt wollte mich in die Landwirtschaft stecken." Deshalb entschied sich der junge Mann, auf die Walz zu gehen. Also fuhr er nach Bielefeld und kaufte sich eine Kluft, die richtige Ausstattung für Wandergesellen aus robustem schwarzen Cord."Am 13. Mai 1952 habe ich mich in den Zug nach Hamburg gesetzt." Dort arbeitete sein Zimmermannskollege Willi Bartsch, der ebenfalls als Rolandsbruder auf Wanderschaft war. Ihre Wege kreuzten sich in den nächsten Jahren noch ein paar Mal. Einzige finanzielle Sicherheit war ein Postsparbuch, um nicht allzu schnell "schmalmachen" zu müssen - das steht in der Sprache der Wanderburschen für Schnorren.In Hamburg kam Hermann Gieseking in der legendären Nichtsesshaftenunterkunft "Pik As" unter, wo für Gesellen auf der Walz ein Extrazimmer bereitstand. Am 24. Mai 1952 wurde er bei der nächsten Zusammenkunft in eine der großen Gemeinschaften von Wandergesellen aufgenommen, den Rolandsschacht. Er wurde "eingebunden", wie es heißt. "Da habe ich meine blaue Ehrbarkeit erhalten." So nennen die Rolandsbrüder ihre Krawatte, an der sie sich auf der Wanderschaft und auf Baustellen sofort erkennen und von den andern Schächten unterscheiden.Rituale beim "Aufklopfen" werden nicht verratenÜber die Aufnahmerituale und alles Weitere, was sich bei den geheimen Zusammenkünften einer örtlichen Gesellschaft seines Schachtes abspielt, darf ein Rolandsbruder nicht reden - nicht einmal gegenüber seiner Frau und seinen Kindern, und das obwohl Hermann Giesekings Sohn Bernd selbst Zimmermann gelernt hat, aber der ist nicht gewandert. Bei den regelmäßigen Treffen der Rolandsbrüder, dem "Aufklopfen", wird selbst der Wirt nicht reingelassen, wenn er neues Bier bringt. Die Übergabe der Getränke erfolgt nach dreimaligem Klopfen an der Tür.Mit dem Einbinden verpflichtete sich Hermann Gieseking für drei Jahre und einen Tag, seinem Heimatort nicht näher als 60 Kilometer zu kommen und nicht länger als sechs Monate an einem Ort zu leben und zu arbeiten. Die Gesellschaften informieren sich untereinander in Briefen über die wandernden Rolandsbrüder ihr Verhalten vor Ort und darüber, ob irgendwo "stief" - gut - gearbeitet werden kann.Mit seinem Hab und Gut, darunter auch sein Zimmermannswerkzeug, in einen "Charlottenburger", ein übergroßes Halstuch, eingeschlagen, kam der junge Todtenhauser weit herum: das Ruhrgebiet, Detmold und Mannheim waren Stationen in Deutschland. Dann aber zog es ihn in die Schweiz, weil die Gesellschaft des Rolandsschachtes in Bellinzona mangels Masse kurz vor der Auflösung stand. Über den Zuzug von zwölf Rolandsbrüdern berichteten 1953 sogar die Medien. "Um arbeiten zu dürfen, musste ich für ein Touristenvisum noch mal zum Schweizer Konsulat nach Baden-Baden zurückfahren", erinnert sich Gieseking. Dort kam er sehr spät am Abend an, meldete sich auf einer Polizeiwache und durfte in einer Zelle übernachten. "Um 6 Uhr in der Früh wurde ich aber rausgeworfen."Außer am Regierungsgebäude in Bellinzona arbeitete der Deutsche unter schwierigsten Bedingungen im Stollen für ein großes Kraftwerk, elf Stunden Schwerstarbeit in 1500 Metern Höhe. "Das habe ich nur drei Tage ausgehalten" - trotz üppiger Zulagen. "Heute bekomme ich sogar ein bisschen Rente aus der Schweiz."Das lag auch an einem Aufenthalt im Baseler Land, wo Grenzwechsel ins französische Elsass nicht selten, wenn auch nicht ganz ungefährlich waren. "Bei einem Dorffest hat Willi Bartsch mehr als einmal mit derselben Frau getanzt", schmunzelt der Handwerker. Schließlich mussten die beiden Freunde vor den Dorfburschen Reißaus nehmen.Nach drei Jahren in Basel "einheimisch gemeldet"In Basel konnte sich Hermann Gieseking am 25. Mai 1955 "einheimisch melden". Seine Wanderjahre hatte er mit Ehren hinter sich gebracht. Nach kurzem Abstecher in die Heimat ging er noch einmal zu den Eidgenossen zurück. "Zweieinhalb meiner viereinhalb Jahre unterwegs war ich in der Schweiz, fast wäre ich dort hängen geblieben."Doch im Oktober 1956 kehrte Hermann Gieseking endgültig ins Mindener Land zurück. Als er kurz darauf bei einem Tanzvergnügen auf dem Saal bei "Hankurt" erschien, erkannte die Dorfjugend den Fremden nicht. "Der muss Knecht bei einem Bauern sein", mutmaßten die jungen Frauen aus Stemmer und Umgebung, darunter auch seine spätere Frau Ilse. Ihretwegen drehte Hermann Gieseking seine Habseligkeiten nicht wieder in seinen Charlottenburger ein, sondern heiratete und gründete eine Familie.Beruflich brachte ihm die Wanderschaft viel. "In der Schweiz habe ich das Treppenbauen gelernt." Fortan war er in mehreren Firmen zwischen Minden und Bielefeld ein gefragter Spezialist für das Einschalen von Betontreppen.Seinem Rolandsschacht blieb Hermann Gieseking treu. "Man gehört dazu, solange man lebt", lautet seine Devise. Am 25. Mai, 60 Jahre nach seinem Einbinden, wird er von Rolandsbrüdern - 80 bis 90 sollen aktuell weltweit auf Wanderschaft sein - auf besondere Weise geehrt. Wie, das bleibt selbst für die engsten Angehörigen geheim. "Wir warten vor der Tür", sagt Sohn Bernd.

Vor 60 Jahren als Zimmermann auf die Walz

Minden (mt). Vor 60 Jahren, am 13. Mai 1952, begann für Hermann Gieseking das große Abenteuer. Mit 18 Jahren verließ der gelernte Zimmermann seine Heimat und begab sich auf eine mehrjährige Wanderschaft.

Im Dutzend nach Bellinzona: Mit anderen Rolandsbrüdern zog Hermann Gieseking (2. von links) 1953 ins Tessin, um die Gesellschaft in Bellinzona am Leben zu erhalten. Insgesamt drei Jahre arbeitete er als Zimmermann in der Schweiz. - © Foto: pr
Im Dutzend nach Bellinzona: Mit anderen Rolandsbrüdern zog Hermann Gieseking (2. von links) 1953 ins Tessin, um die Gesellschaft in Bellinzona am Leben zu erhalten. Insgesamt drei Jahre arbeitete er als Zimmermann in der Schweiz. - © Foto: pr

Mit 14 kam der gebürtige Todtenhauser Hermann Gieseking am 1. April 1948 in die Lehre. "Eigentlich wollte ich Tischler werden." Aber weil nur noch eine Lehrstelle als Zimmermann frei war, nahm er die. Bereut hat er es nicht - im Gegenteil: "Sonst hätte ich vieles nicht erlebt."

"Mit siebzehneinhalb war ich Geselle", blickt der Handwerker zurück. Aber es gab zu wenig Arbeit in und um Minden. "Das Arbeitsamt wollte mich in die Landwirtschaft stecken." Deshalb entschied sich der junge Mann, auf die Walz zu gehen. Also fuhr er nach Bielefeld und kaufte sich eine Kluft, die richtige Ausstattung für Wandergesellen aus robustem schwarzen Cord.

"Am 13. Mai 1952 habe ich mich in den Zug nach Hamburg gesetzt." Dort arbeitete sein Zimmermannskollege Willi Bartsch, der ebenfalls als Rolandsbruder auf Wanderschaft war. Ihre Wege kreuzten sich in den nächsten Jahren noch ein paar Mal. Einzige finanzielle Sicherheit war ein Postsparbuch, um nicht allzu schnell "schmalmachen" zu müssen - das steht in der Sprache der Wanderburschen für Schnorren.

In Hamburg kam Hermann Gieseking in der legendären Nichtsesshaftenunterkunft "Pik As" unter, wo für Gesellen auf der Walz ein Extrazimmer bereitstand. Am 24. Mai 1952 wurde er bei der nächsten Zusammenkunft in eine der großen Gemeinschaften von Wandergesellen aufgenommen, den Rolandsschacht. Er wurde "eingebunden", wie es heißt. "Da habe ich meine blaue Ehrbarkeit erhalten." So nennen die Rolandsbrüder ihre Krawatte, an der sie sich auf der Wanderschaft und auf Baustellen sofort erkennen und von den andern Schächten unterscheiden.

Rituale beim "Aufklopfen" werden nicht verraten

Über die Aufnahmerituale und alles Weitere, was sich bei den geheimen Zusammenkünften einer örtlichen Gesellschaft seines Schachtes abspielt, darf ein Rolandsbruder nicht reden - nicht einmal gegenüber seiner Frau und seinen Kindern, und das obwohl Hermann Giesekings Sohn Bernd selbst Zimmermann gelernt hat, aber der ist nicht gewandert. Bei den regelmäßigen Treffen der Rolandsbrüder, dem "Aufklopfen", wird selbst der Wirt nicht reingelassen, wenn er neues Bier bringt. Die Übergabe der Getränke erfolgt nach dreimaligem Klopfen an der Tür.

Mit dem Einbinden verpflichtete sich Hermann Gieseking für drei Jahre und einen Tag, seinem Heimatort nicht näher als 60 Kilometer zu kommen und nicht länger als sechs Monate an einem Ort zu leben und zu arbeiten. Die Gesellschaften informieren sich untereinander in Briefen über die wandernden Rolandsbrüder ihr Verhalten vor Ort und darüber, ob irgendwo "stief" - gut - gearbeitet werden kann.

Mit seinem Hab und Gut, darunter auch sein Zimmermannswerkzeug, in einen "Charlottenburger", ein übergroßes Halstuch, eingeschlagen, kam der junge Todtenhauser weit herum: das Ruhrgebiet, Detmold und Mannheim waren Stationen in Deutschland. Dann aber zog es ihn in die Schweiz, weil die Gesellschaft des Rolandsschachtes in Bellinzona mangels Masse kurz vor der Auflösung stand. Über den Zuzug von zwölf Rolandsbrüdern berichteten 1953 sogar die Medien. "Um arbeiten zu dürfen, musste ich für ein Touristenvisum noch mal zum Schweizer Konsulat nach Baden-Baden zurückfahren", erinnert sich Gieseking. Dort kam er sehr spät am Abend an, meldete sich auf einer Polizeiwache und durfte in einer Zelle übernachten. "Um 6 Uhr in der Früh wurde ich aber rausgeworfen."

Außer am Regierungsgebäude in Bellinzona arbeitete der Deutsche unter schwierigsten Bedingungen im Stollen für ein großes Kraftwerk, elf Stunden Schwerstarbeit in 1500 Metern Höhe. "Das habe ich nur drei Tage ausgehalten" - trotz üppiger Zulagen. "Heute bekomme ich sogar ein bisschen Rente aus der Schweiz."

Das lag auch an einem Aufenthalt im Baseler Land, wo Grenzwechsel ins französische Elsass nicht selten, wenn auch nicht ganz ungefährlich waren. "Bei einem Dorffest hat Willi Bartsch mehr als einmal mit derselben Frau getanzt", schmunzelt der Handwerker. Schließlich mussten die beiden Freunde vor den Dorfburschen Reißaus nehmen.

Nach drei Jahren in Basel "einheimisch gemeldet"

In Basel konnte sich Hermann Gieseking am 25. Mai 1955 "einheimisch melden". Seine Wanderjahre hatte er mit Ehren hinter sich gebracht. Nach kurzem Abstecher in die Heimat ging er noch einmal zu den Eidgenossen zurück. "Zweieinhalb meiner viereinhalb Jahre unterwegs war ich in der Schweiz, fast wäre ich dort hängen geblieben."

Doch im Oktober 1956 kehrte Hermann Gieseking endgültig ins Mindener Land zurück. Als er kurz darauf bei einem Tanzvergnügen auf dem Saal bei "Hankurt" erschien, erkannte die Dorfjugend den Fremden nicht. "Der muss Knecht bei einem Bauern sein", mutmaßten die jungen Frauen aus Stemmer und Umgebung, darunter auch seine spätere Frau Ilse. Ihretwegen drehte Hermann Gieseking seine Habseligkeiten nicht wieder in seinen Charlottenburger ein, sondern heiratete und gründete eine Familie.

Beruflich brachte ihm die Wanderschaft viel. "In der Schweiz habe ich das Treppenbauen gelernt." Fortan war er in mehreren Firmen zwischen Minden und Bielefeld ein gefragter Spezialist für das Einschalen von Betontreppen.

Seinem Rolandsschacht blieb Hermann Gieseking treu. "Man gehört dazu, solange man lebt", lautet seine Devise. Am 25. Mai, 60 Jahre nach seinem Einbinden, wird er von Rolandsbrüdern - 80 bis 90 sollen aktuell weltweit auf Wanderschaft sein - auf besondere Weise geehrt. Wie, das bleibt selbst für die engsten Angehörigen geheim. "Wir warten vor der Tür", sagt Sohn Bernd.

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