Minden (mt). In viele Sprachen sind Bücher von Franz Boas (1858-1942) übersetzt worden. Deutsche Ausgaben des in Minden geborenen Anthropologen sind jedoch rar. Jetzt liegt sein kunstgeschichtliches Hauptwerk "Primitive Art" in einer neuen Übersetzung vor - auf Persisch.

1927 erschien "Primitive Art" - zu deutsch: "Primitive Kunst" oder besser: "Die Kunst der Primitiven" - zum ersten Mal, und zwar auf Englisch in einem norwegischen Verlag. Boas, der selbst musisch veranlagt war und seit seiner ersten Expedition zu den Inuit auf der kanadischen Insel Baffinland eigenhändig Zeichnungen von Kunst- und Kultobjekten angefertigt hatte, traf mit dem Werk den Nerv der Zeit. Künstler und Intellektuelle interessierten sich mehr und mehr für außereuropäische Kunstformen und Darstellungen.
Breiten Raum widmete der 1887 in die USA ausgewanderte Boas, der bereits mehrere Monografien über Gesellschaft, Sprache und Mythologie der Kwakiutl-Indianer im Westen Kanadas verfasst hatte, in "Primitive Art" der Kunst der Nordwestküste, einem einzigartigen Kulturraum vom Norden Kaliforniens bis nach Alaska. In dem mehr als 350 Seiten starken Werk setzte er sich nicht nur mit formalen Elementen, Symbolik und Stil darstellender Kunst auseinander, sondern behandelte auch Literatur, Musik und Tanz sogenannter primitiver Völker, wobei "primitiv" in der damaligen Terminologie der Ethnologen - und schon gar nicht in Boas eigenem Sprachgebrauch - keinesfalls negativ oder abwertend gemeint war.
Auf der Grundlage seiner umfassenden vorherigen Studien gab Franz Boas mit dem Werk den Anstoß für eine seither ununterbrochene Erforschung der Nordwestküstenkunst und ihres Formenreichtums. Auch viele Künstler mit indigenen Wurzeln ließen sich davon zusätzlich inspirieren und gelangten wie Mungo Martin und Bill Reid weithin zu Ruhm und Ansehen.
Nach Boas Tod erschienen mehrere Neuauflagen auf Englisch, zuletzt 2010. Es folgten Übersetzungen ins Spanische, Portugiesische (jeweils 1947) und Italienische (1981). Noch 2003 gab Marie Mauzé, eine Schülerin von Claude Lévi-Strauss (1908-2009), eine französische Ausgabe heraus. Damit lag das Buch - das wichtigste allgemeinere Werk von Boas neben "The Mind of Primitive Man" (1911) - in den wichtigsten westlichen Verkehrssprachen vor.
Deutscher Verleger verlangt Eigenbeitrag
Eine Übersetzung in seine Muttersprache, wie von Boas gewünscht und selbst betrieben, ist jedoch nie zustande gekommen. Während eines Deutschland-Aufenthalts im Sommer 1929 führte er zwar Verhandlungen mit dem Verlag Strecker & Schröder aus Stuttgart, aber er sollte nicht nur selbst für die Übersetzung sorgen, sondern auch einen stattlichen finanziellen Eigenbeitrag leisten. Angesichts einer Forderung von 1000 US-Dollar für eine Auflage von 1000 Exemplaren lehnte Boas ab, möglicherweise in der Hoffnung, als international renommierter, deutschstämmiger Wissenschaftler einen anderen deutschen Verlag zu finden. Daraus wurde angesichts widriger Umstände nichts.
Denn nach seiner Rückkehr nach New York brach im Oktober 1929 die Weltwirtschaftskrise aus. Am 16. Dezember 1929 wurde seine Frau Marie durch ein Auto getötet, dessen Fahrer Unfallflucht beging. Dennoch steckte Boas nicht auf, stürzte sich geradezu in Arbeit und unternahm 1930 eine weitere Forschungsreise an die Nordwestküste, bei der Filmaufnahmen entstanden. 1931 war er Präsident der weltweit größten wissenschaftlichen Gesellschaft, der American Association for the Advancement of Science. Zur Jahreswende 1931/32 erkrankte er schwer. Dennoch bewirkte Boas 1932 mit Erfolg das Erscheinen seiner im Jahr zuvor bei seinem 50. Doktorjubiläum gehaltenen Grundsatzrede "Rasse und Kultur", in der er eindringlich vor den Folgen des wissenschaftlichen Rassismus und dem heraufziehenden Nationalsozialismus warnte.
Machtübernahme der Nazis macht Pläne zunichte
Nach der Machtübernahme Hitlers war an eine Fortsetzung der Publikationspläne nicht zu denken. Stattdessen wurden 1933 auch Boas Bücher, darunter "Kultur und Rasse", die in zwei Auflagen 1914 und 1922 gedruckte Übersetzung von "The Mind of Primitive Man", verbrannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien 1955 eine Neuübersetzung der überarbeiteten Neuauflage mit dem Titel "Das Geschöpf des sechsten Tages", und ferner ein Nachdruck seiner "Indianischen Sagen" von 1895 sowie eine Zusammenstellung von Kwakiutl-Sagen.
Um so bemerkenswerter ist nun die Veröffentlichung der persischen Übersetzung von "Primitive Art" - und das in einem Land, dessen Regierung seit Jahrzehnten ein angespanntes Verhältnis zu den USA hat. Franz Boas Buch sei Resultat einer 40 Jahre währenden Recherche, begründete der Übersetzer Jalal-uddin Rafiefar seine Arbeit und drückte damit die eigene Wertschätzung für Boas aus.
Derzeit im Druck ist der von der Anthropologin und Boas-Kennerin Regna Darnell herausgegebene Sammelband "Franz Boas: Ethnographer, Theorist, Activist, Public Intellectual". Er umfasst Beiträge einer Tagung in London, Ontario, im Dezember 2010.
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