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LIEBE LESERINNEN UND LESER,
es ist eine altbekannte Weisheit, dass die Wahrheit das erste
Opfer des Krieges ist. Desinformationen gehörten schon immer
in den gut bestückten Werkzeugkasten kriegsführender
Parteien. Das ist auch irgendwie logisch, denn welcher Soldat,
der mit Mut und Ehrgefühl sein Land verteidigen will, wäre
jemals in den Krieg gezogen, wenn ein Staatsoberhaupt so
etwas gesagt hätte, wie: „Mein territorialer Größenwahn ist
aus einem Minderwertigkeitskomplex gewachsen. Also greift
gefälligst zu den Waffen, marschiert in das Land unserer
Nachbarn ein und gleicht diesen Mangel mit brutaler Gewalt
aus!“ Unter dem Einfluss von Professor Snapes Veritaserum
hätte es in den vergangenen 100 Jahren ein vermutlich keinen
Krieg gegeben.
Weil das mit der Wahrheit eben so eine Sache für sich ist,
müssen Journalisten besonders sorgfältig arbeiten. Es nötigt
mir Respekt ab, dass Reporter in Kriegsgebieten ihr Leben riskieren,
um valide Informationen zu liefern. Bildmaterial wird
meist aufwändig geprüft und Satellitenbilder werden verglichen,
um zeitliche Abläufe zu verifizieren. Die Arbeit der Journalisten
soll informieren und damit die Menschen in die Lage
versetzen, sich eine fundierte Meinung zu bilden. Da es sich
bei Journalisten gemeinhin ebenfalls um Menschen handelt,
dürfen sich diese selbstverständlich auch eine eigene Meinung
bilden, die sie dann idealerweise in Kommentaren veröffentlichen.
Vieles von dem, was wir hören und lesen, ist Meinung.
Ob der russische Präsident Putin im Falle eines Sieges über
die Ukraine weitere Länder angreifen würde, ob er die Lieferung
schwerer Waffen als Einmischung und als Kriegsgrund
gegen Europa und die Nato bewerten würde, wie groß die Gefahr
ist, dass der Krieg zu einem dritten Weltkrieg wird und
wie groß die Gefahr ist, dass es zu einer Auseinandersetzung
mit Atomwaffen kommt – all das wissen wir nicht verlässlich.
Sogar die Frage, die jüngst Vizekanzler Robert Habeck eher
rhetorisch formulierte, ob die Ukraine für sich kämpfe, also
eine bilaterale Auseinandersetzung führt, oder ob die Ukraine
für uns kämpft, können wir nicht mit Sicherheit und mit Fakten
untermauert beantworten. Auch hier bewegen wir uns im Bereich
von Meinungen.
Dass die Staatsführung der Ukraine mit Nachdruck darauf besteht,
dass sie für uns kämpft und wir darum zu noch mehr
und noch schnellerer Hilfe verpflichtet seien, ist nachvollziehbar.
Die Form der Kritik finde ich allerdings wenigstens ärgerlich
und ich bin irritiert darüber, wie schnell sich dennoch ein
breiter Konsens in der Debatte einstellt. Wer beispielsweise
kritisch anmerkt, dass es nicht optimal ist, dem Bundespräsidenten
einen Besuch in der Ukraine
zu verwehren, wer sagt, dass der Botschafter
der Ukraine in Deutschland,
Andrij Melnyk, eine Spur diplomatischer
sein könnte, wer sagt, dass die Forderungen an Deutschland
in Verbindung mit der Zuweisung von Schuld nicht angemessen
sind, der wird sich auf einen Sturm der Entrüstung
gefasst machen müssen.
Ich habe den Eindruck, dass der ehemalige Außenminister
Siegmar Gabriel für seine Äußerungen schon deshalb kritisiert
wurde, weil er kritisiert werden musste, wenn man auf
der richtigen Seite stehen wollte. Den Vorwurf, Frank-Walter
Steinmeier habe ein Spinnennetz an Russland-Kontakten gesponnen,
was den Krieg erst ermöglicht habe, finde ich happig
und ich habe es als nachvollziehbar empfunden, dass Siegmar
Gabriel sich dagegen gewehrt hat. In einer Diskussion zu diesem
Thema habe ich vor ein paar Tagen die Fragen gestellt,
ob es nach Ende des Kalten Krieges nicht eine gute Idee gewesen
sein könnte, eine freundlich gesinnte Russland-Politik
zu betreiben und ob der Krieg in der Ukraine neben unseren
Handelsbeziehungen nicht auch darin begründet sein könnte,
dass die Umsetzung des Minsker Abkommens nicht so optimal
gelaufen ist. Dafür wurde ich als Putin-Troll und Nazi beschimpft.
Das sind „Auszeichnungen“, die den Zustand unserer
Debattenkultur in Deutschland beschreiben und die ich mir
nun direkt neben „linksgrünversifft“ und „Gutmensch“ ins Regal
stellen kann.
Ich finde es besorgniserregend, wenn die Außenpolitik nicht
von Regierung und Bundestag bestimmt wird, sondern von
den Tweets eines Botschafters. Gerade in einer so gefährlichen
Situation wie derzeit wäre die Politik gut beraten, besonnen
statt emotional zu entscheiden. Es gibt viel zu bedenken. Darüber,
wie ein Übergreifen des Krieges auf ganz Europa und die
Nato verhindert werden kann sowie darüber, wie eine friedliche
Weltordnung nach einem hoffentlich baldigen Kriegsende
aussehen soll.
Zum Glück habe ich nur ein Porta Magazin zu schreiben und
nicht darüber zu entscheiden, ob mit Kriegsrhetorik, Schuldzuweisungen
und Waffenlieferungen Frieden geschaffen werden
kann. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen sonnigen
Wonnemonat Mai und gute Unterhaltung mit diesem Magazin.
Herzlichst
Mario Hancke